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NEUGESTALTUNG IN DER MITTE DES REICHES 115
die Herrschaft Hessen einen räumlich und rechtlich weitgehend klar definierten, deutlich von der Landgrafschaft Thüringen geschiedenen Herrschaftsbereich darstellte, der, wie 1231 und 1238, jederzeit unterschiedlichen Inhabern zu unterstellen war.
Allerdings bestanden nach dem Tod Heinrich Raspes der engere dynastische Ver- band der Ludowinger und der von Heinrich Raspe noch einmal zusammengehalte- ne ludowingische Herrschaftskomplex nicht mehr, die gleichsam die Klammer für die Regelungen von 1231 und 1238 gebildet hatten. Insofern erfolgte tatsächlich eine Trennung, jedoch in der Weise, dass mit den ludowingisch versippten Wettinern in Thüringen und – seit Sophies Sohn Heinrich488 – mit den gleichfalls ludowingisch ver- sippten Brabantern in Hessen jeweils unterschiedliche Herrscherhäuser an die Stelle der bislang der Landgrafschaft Thüringen und der Herrschaft Hessen gemeinsamen Herrscherdynastie der Ludowinger traten. Sie bestimmten fortan die Geschicke der Landgrafschaft Thüringen und der künftigen Landgrafschaft Hessen, was nach der gemeinsamen Zeit unter ludowingischer Herrschaft zweifellos zu einer Auseinander- entwicklung in jeweils eigenen dynastischen und territorialen Kontexten führte. Doch war dieser Prozess keineswegs eine Loslösung Hessens von Thüringen. Vielmehr, um eine Formulierung von Wolf Rudolf Lutz aufzugreifen, „trat wieder auseinander, was nie verschmolzen war“489.
Eng mit dieser Thematik verbunden ist die viel diskutierte Frage nach dem Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Sophie von Brabant und Heinrich dem Erlauchten. Un- sere nochmalige detaillierte Quellen- und Ereignisanalyse zeigte eindeutig, dass, wie eben betont, im Mittelpunkt des Konfliktes die umfangreichen Erbgüter Sophies in Thüringen, an der Spitze die Wartburg, standen, die Sophie 1250 ihrem wettinischen Vetter befris- tet anvertraut, dieser ihr aber nicht mehr zurückgegeben hatte. Während die Zeitgenossen eher von einem anfänglichen Einvernehmen Sophies und Heinrichs berichten, lässt sich deutlich nachvollziehen, wie in der Folgezeit sich in Thüringen verbreitete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Nachfolge Heinrichs in der Landgrafschaft, antiwettinische Stimmung, die Erinnerung an Konflikte infolge eines Rechtsbruchs Heinrichs gegenüber Sophie und Anhänglichkeit an das ausgestorbene ludowingische Landgrafenhaus mit einander verban- den. Dies führte zu der Tradition, die Landgrafschaft Thüringen habe Sophie und ihrem Sohn Heinrich als den wahren Erben zugestanden, doch habe ihnen Markgraf Heinrich dieses Erbe vorenthalten, was Anlass langjähriger, verheerender Kriege gewesen sei. Das Konstrukt eines hessisch-thüringischen Erbfolgekrieges um die berechtigten Ansprüche Sophies und ihres Sohnes auf die Landgrafschaft Thüringen, das sich auf diese Weise seit dem frühen 14. Jahrhundert formierte, hat durch seine ausschmückende Rezeption in der
488 Sophie selbst, die sich in vielfacher Weise zur ludowingischen Tradition und – neben ihrer Mutter, der hl. Elisabeth – insbesondere zu ihrem Vater Landgraf Ludwig IV. bekannte, möchte man hingegen eher als eine brabantisch versippte Ludowingerin bezeichnen.
489 lutz (wie Anm. 9), S. 261. Deutlich betont auch hussonG (wie Anm. 9), S. 39: „Unter dem Blickpunkt der hessischen Geschichte ist bislang sehr oft übersehen worden, daß 1264 nicht Thüringen und Hes- sen voneinander getrennt wurden. Vielmehr wurde eine neue territoriale Grenze geschaffen, die Ergeb- nis eines Kräftemessens war und als Ausdruck eines Kompromisses gewertet werden darf“.