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HUANG DI NEI JING LING SHU
tematischen Korrespondenzen, das sind die Yin-Yang-Lehre und die Fünf-Phasen-Lehre. Beide werden nicht explizit als solche erläutert, so wie dies gelegentlich im Su wen nachzulesen ist. Ein Beispiel ist die Grundidee einer Normalität von Gewalt in der Natur wie auch im indi- viduellen Organismus, über die es in Su wen Kapitel 69 heißt:
Wenn die Qi einander niederringen, das ist Harmonie.
Wenn sie sich nicht gegenseitig niederringen, das ist Krankheit.
Im Ling shu finden sich kaum solch allgemeine Formulierungen über die Natur von Yin und Yang. Sie werden vielmehr in ihrer Anwendung aufgezeigt. Die vermutlich von 王冰 Wang Bing im 8. Jahrhundert mit einem Anteil von etwa 30 000 Schriftzeichen in das Su wen einge- fügten, aber wahrscheinlich bereits zur Han-Zeit verfassten Textteile mit der Lehre von den Fünf Perioden und Sechs Qi, wu yun liu qi 五 運六氣,14 sind im Ling shu, zum Beispiel in Kapitel 79, nur margi- nal berücksichtigt. So vermittelt das Ling shu mehr noch als das Su wen den Eindruck, dass die Autoren die Kenntnis der Lehren der syste- matischen Korrespondenz bei ihren Lesern voraussetzten. Den Großteil der Ausführungen zu den Krankheiten, zu den physiologischen und den pathologischen Vorgängen im menschlichen Organismus bilden folglich Erklärungen, die offenbar auf als bekannt vorausgesetzten An- nahmen basierten.
Ganze Kapitel sind solchen Erläuterungen gewidmet. Die in der Um- gangssprache benannten und von Laien gefühlten oder beobachteten Leidenszustände werden in manchen Dialogen direkt der Theorie un- terworfen, so zum Beispiel, wenn die Weiterleitung von Krankheiten im Körper dargestellt wird. Häufig findet sich die Theorie nur indirekt in Aussagen zur Therapie. Die für Nadelung und Aderlass zu wählenden Leitbahnabschnitte oder sonstigen Körperbereiche geben Aufschluss da- rüber, welche Yin- oder Yang-Bereiche einem Leiden zugeordnet waren. Ein Beispiel ist Ling shu Kapitel 24. Dieses Kapitel ist eines der wenigen, die nicht als Dialog sondern als normaler, narrativer Text verfasst sind. Den ersten Teil des Kapitels bilden Ausführungen zur Therapie von „Herzschmerz“ und dann „Kopfschmerz“, die auf Grund von „Zurück- weichenden Qi“ entstehen. Wie solche Symptome zustande kommen, oder warum Qi zurückweichen, das wird nicht erläutert. Herzschmerz, der auf Grund „Zurückweichender Qi“ entsteht, mag von einem „ge-
14 Vergl. dazu ausführlich, Unschuld 2003, 385 ff.
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