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HUANG DI NEI JING LING SHU
zum Atmen die Schultern anheben muss, dann sagt das etwas über die Lunge aus. Die Größe des Skeletts, die Ausmaße des Nackens, die Deh- nung des Brustkorbs zeigen den Zustand des Magens und der Ernährung an – so gibt es für jeden der Kurzzeit- und Langzeitspeicher „Anzeiger“ im Körperäußeren, die der Kundige in seiner Diagnose beachten muss. Die Höhe des Nasenbeins, die Größe der Nasenöffnungen, die Augen- säcke – alle diese Gegebenheiten verrieten dem Kundigen etwas über den Zustand seines Gegenübers; er musste ihn weder berühren, noch – bei einer hochgestellten Persönlichkeit kaum denkbar – befragen. Doch es gibt auch den bewussten Perspektivwechsel. In Kapitel 74 verlangt Huang Di von Qi Bo genau das Gegenteil; er möchte keine Färbungen anschauen und auch nicht an verschiedenen Körperstellen den Fluss in den Gefäßen untersuchen, sondern er möchte stattdessen erfahren, wie man mittels des Zustands einer einzigen Stelle am Handgelenk etwas über eine Krankheit aussagen kann.
An der Unterweisung, die ihm Qi Bo gibt, wird der Übergang von der visuellen und taktilen Untersuchung der Gefäße am Handgelenk und der darüber liegenden Hautfläche zu der Inspektion der Bewegung in den Gefäßen sichtbar. Eine noch bis in jüngste Zeit verwendete Be- zeichnung für das Pulsfühlen in der chinesischen Medizin lautet kan mai 看脈, wörtlich: „die Gefäße betrachten“.13 Wenn also Qi Bo auf die diagnostisch relevanten Zustände einer bestimmten Sektion am Hand- gelenk als „entspannt oder angespannt“, „verkleinert oder vergrößert, glatt oder rau“ hinweist, dann verschwimmen die Grenzen zwischen der Wahrnehmung dieser Werte an der Haut oder als Merkmale der Be- wegung in den Gefäßen. Ob die Gefäße „eingesunken“ oder, auf Grund von Blut- und Qi-Stau angeschwollen sind, das ist ebenfalls in die Be- wertung eines Krankheitsfalls einzubeziehen.
8. Zustände des Krankseins
Die im Ling shu aufgeführten Leidenszustände werden vor allem mit den so genannten „üblen Qi“, xie qi 邪氣, in Zusammenhang gebracht. Sie können von außen als Wind, Kälte, Wärme, Hitze oder Feuchtigkeit in den Körper gelangen. Dort verbleiben sie entweder statisch an einem Ort oder aber sie ziehen von außen nach innen, aus der Haut bis tief in die Langzeitspeicher oder sogar das Knochenmark. Eine dritte Möglich- keit besteht darin, dass sie von einem Langzeitspeicher in den anderen
13 Zur Frühzeit der Pulsdiagnose in China, siehe E. Hsu: Pulse Diagnosis in Early Chi- nese Medicine: The Telling Touch. Cambridge: Cambridge University Press, 2010.
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