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HUANG DI NEI JING LING SHU
zen dieses Zustands, die sich in mancher Hinsicht dem Patienten selbst als unangenehme Veränderungen und gewisslich aber dem Heilkundi- gen als Abweichungen vom Normalzustand zeigen, andererseits. Die neue Medizin bediente sich einer Reihe von Vergleichen, um auf die- se Unterscheidung aufmerksam zu machen. „Wurzel“, ben 本, im Sinne von „Ursprung“, und „Ende“ , mo 末, im Sinne von „Konsequenz“, war eines der Begriffspaare, mit denen auf Krankheit und Symptom hinge- wiesen wurde.
Dem Heilkundigen obliegt es, mittels der Diagnose die „Wurzel“ einer Erkrankung im Inneren zu identifizieren und daraus die notwendigen Folgerungen für die Therapie oder auch, bei infauster Prognose, für die Nichteinleitung einer Therapie zu ziehen. Das war in antiken Kul- turen eine für den Arzt fast überlebenswichtige Unterscheidung, die heilbaren und somit zu behandelnden Patienten, von denen zu trennen, die unheilbar erkrankt waren und damit auch nicht therapiert wer- den konnten. Der Arzt, der einen unheilbar Kranken behandelte, war entweder inkompetent oder auf Gewinn an einem dem Tode Geweih- ten aus – beides war verwerflich und gegebenenfalls zu bestrafen. Die Prognose spielte daher sowohl in der chinesischen als auch in der grie- chischen Antike eine bedeutsame Rolle. Zwar gibt es für die indische Medizin des Ayurveda keine ähnlich alten Quellen, doch auch dort war der Ayurveda-Arzt bis zum Eintreffen der modernen westlichen Medi- zin zu äußerster Zurückhaltung bei unheilbar Erkrankten gezwungen und somit auf prognostische Kompetenz angewiesen.
Die Diagnose selbst unterlag im Ling shu einer Rangordnung. In Kapi- tel 4 lesen wir, dass derjenige, der den Patienten nur anschauen muss um zu erkennen, welches gesundheitliche Problem er hat, „erleuchtet“, 明 ming, ist. Die Kennzeichnung der zweitbesten Kompetenz, die den- jenigen Heilkundigen zugesprochen wird, die den Puls fühlen müssen, ist bemerkenswert. Sie sind nur „göttlich“, 神 shen. Man sollte denken, dass das „Göttliche“ über allem anderen steht. Genau das auszudrü- cken vermied der antike Autor dieser Schrift. Das „Göttliche“ ist hier nicht mit „Göttern“ im numinosen Sinn gemeint, es meint einfach nur: herausragend, nicht einmal sehr gut, das ist dem Erleuchtetsein vor- behalten. Der Begriff des „Göttlichen“ ist hier genauso herabgestuft, wie etwa in der heutigen deutschen Umgangssprache, wenn etwas als „göttlich“ bezeichnet wird. Man könnte auch „wunderbar“ oder „phan- tastisch“ sagen – mit dem Gott, der in der Religion verehrt wird, hat das nichts mehr gemein. An letzter Stelle kommt die Befragung des Patien- ten; wer sich darauf verlassen muss, der ist nur ein Praktiker, 工 gong.
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