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HUANG DI NEI JING LING SHU
Die besondere Hochschätzung des bloßen Anschauens eines Patienten als Grundlage einer exakten Diagnose mag erstaunen. Sie hat jedoch einen damals ganz konkreten Hintergrund. Wir erinnern uns an die erste Erwähnung einer Arzt-Patienten-Beziehung in der chinesischen historiographischen Literatur überhaupt. Das war die im 史記 Shi ji des 司馬遷 Sima Qian um 100 v. Chr. aufgezeichnete Begegnung des 扁鵲 Bian Que mit dem Marquis Huan von Qi. Bian Que besuchte eine Audienz des Herrschers und erkannte aus der Distanz, dass dieser eine Therapie benötigte, die im Anfangsstadium der Krankheit noch Hei- lung versprach. Doch als er dies vortrug, wurde er barsch abgewiesen. Die Geschichte ging traurig aus, da der Marquis auch spätere Warnun- gen nicht ernst nehmen wollte und schließlich nicht mehr zu retten war. Das ist nicht nur die älteste bekannte Darstellung einer Arzt-Pati- enten-Beziehung in China, es ist gleichzeitig auch ein Hinweis darauf, wie schwierig es ist, einem Herrscher als Arzt nahe zu treten. Das Ling shu spricht dieses Problem mehrfach an, am deutlichsten in Kapitel 29. Herrscher und andere hoch gestellte Persönlichkeiten kann man kaum dazu überreden, ihren Körper einer eingehenden, direkten Unter- suchung zur Verfügung zu stellen. Sie zu berühren, etwa um den Puls zu fühlen, das ist kaum denkbar. Der einzige Ausweg, auch solche Per- sonen auf ein Leiden hin zu untersuchen, ist die Sicht aus gebotener Entfernung.
Das Ling shu bietet zahlreiche Hinweise auf diagnostisch relevante Pa- rameter, die dem Auge des Betrachters Aufschluss über den inneren Zustand eines Patienten bieten. Der Zusammenhang zwischen Innen und Außen ist laut Ling shu Kapitel 4 so eng, wie der zwischen dem Schlag auf eine Trommel und dem sofortigen Ton, den die Trommel von sich gibt, und vor allem so charakteristisch, wie die Beziehung zwi- schen einem Gegenstand und seinem Spiegelbild im klaren Wasser. Da stehen an erster Stelle die Färbungen, vornehmlich im Gesicht, rechts und links der Nase, unter den Augen und an anderen aussagekräftigen Stellen, so auch an den Fingernägeln, deren Gelbfärbung beispielswei- se, laut Kapitel 47, etwas über ein Problem in der Gallenblase verrät. Über die in der Fünf-Phasen-Lehre festgelegten Korrespondenzen von äußerlich erkennbaren Farben und inneren Organen lassen sich somit für die anschließende Therapie unentbehrliche Erkenntnisse gewinnen. Entscheidende Hinweise sind auch aus bestimmten anderen Merkma- len zu entnehmen.
Ob die Augen groß oder klein sind, sagt etwas über die Galle aus. Die Verfassung der Lippen sagt etwas über die Milz aus. Wenn der Patient
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