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HUANG DI NEI JING LING SHU
Die angeborene Konstitution ist, so lernen wir in Kapitel 50, viel wich- tiger als etwa die mentale Verfassung, wenn es darum geht, ob jemand Schmerz erträgt oder nicht. Es spielt keine Rolle, ob einer ein Drauf- gänger oder ein Feigling ist; unter beiderlei Typen gibt es solche, die sich dem Schmerz gelassen hingeben oder eben auch nicht. Das beruht nicht auf bewusster Entscheidung; das ist in der individuellen Kon- stitution jedes Menschen angelegt. Ein kleiner Hinweis hier auf ein hübsches Detail, das in heutiger Terminologie als die Frage nach dem Verlust der Impulskontrolle formuliert werden würde. Wieso, auch das lesen wir in Ling shu Kapitel 50, wagt es ein Feigling, einem viel kräfti- geren Draufgänger dennoch entgegen zu treten? Weil er betrunken ist, so die damals wie heute gültige Erklärung, und der Alkohol die Hemm- schwelle absenkt.
Die Frage, warum der eine lange lebt, auch wenn er stärksten Ge- fährdungen ausgesetzt war, während ein anderer, der stets in Ruhe in seinen vier Wänden verbleiben und ein „rechtschaffenes“ Leben führen konnte, nur kurz lebt und plötzlich stirbt, diese Frage wurde ver- schiedentlich diskutiert, so auch in Kapitel 54. In Kapitel 58 wird die Frage erörtert, wie jemand, scheinbar ohne entsprechenden pathogenen Einfluss von außen, erkranken kann. All dies ist weitgehend nachvoll- ziehbar, aber einige der damaligen Vorstellungen von den Ursachen des Krankseins bleiben doch auf die chinesische Medizin beschränkt. Das ist im Ling shu insbesondere die Deutung bestimmter Jahreszei- ten und Tage als besonders gesundheitsgefährdend. In solchen Ideen mögen sich Beobachtungen wiederfinden, die in China eine bestimmte empirische Grundlage besaßen, da das Land zumindest bis vor kurzem von einem kontinentalen Klima geprägt wurde, in dem die jahreszeit- lich bedingten klimatischen Vorgänge recht genau datierbar und somit vorhersehbar waren. Die Systematisierung solcher Erfahrungen und de- ren Einbindung in das theoretische Grundgerüst der Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren bleiben dem heutigen Leser dennoch kaum nach- vollziehbar.
7. Diagnose
Das Ling shu und das Su wen dokumentieren einen überaus wichtigen konzeptuellen Fortschritt in der Bewertung von Kranksein. Sie füh- ren explizit und wiederholt eine Unterscheidung ein, die es offenbar zuvor nicht gab. Das ist die Trennung zwischen dem pathologischen Zustand, der im Inneren des Organismus entsteht und nur durch die Theorie erfassbar ist, einerseits und den pathologischen Konsequen-
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