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HUANG DI NEI JING LING SHU
schen Palette im Ling shu muss man sich erneut fragen: woher kommen diese Erfahrungen, da doch keinerlei Hinweise in chinesischen Quellen über eine längere Periode der Herausbildung des entsprechenden Wis- sens erkennbar sind. Vielleicht sollte man sich vor Augen halten, dass die ein- oder zweihundert Jahre vom Ende der Zhou-Dynastie und der Gründung der ersten Han-Dynastie bis zur wahrscheinlichen Nieder- schrift von großen Teilen des Su wen und des Ling shu damals nicht weniger kreativ gewesen sein können als etwa die zweihundert Jahre zwischen 1900 und 2100 in Europa. Das ist eine lange Zeit, und in die- ser langen Zeit ist sehr viel erdacht, angewendet und in Erfahrung und Erkenntnisse umgewandelt worden. Das mag auch so in der chinesi- schen Antike gewesen sein; wie die Inhalte von Su wen und Ling shu immer wieder bestätigen, waren die damaligen Autoren Intellektuelle von hohen Graden – und so ist zu vermuten, dass sie auch ähnlich kre- ativ und erkenntnisschnell dachten und handelten, wie ihre Kollegen zwei Jahrtausende später.
Krankheit, so erkannten sie, ist eine höchst komplexe Angelegen- heit. Krankheit ist unerwünscht und muss daher in zweierlei Hinsicht bekämpft werden. Zum einen, wenn sie schon eingetroffen ist. Zum an- deren, bevor sie den Menschen erfassen kann. So wie die europäische Medizin im Zeitalter vor den Antibiotika war auch die chinesische Me- dizin von Anfang an darauf bedacht, Krankheit gar nicht erst entstehen zu lassen. Die bekannteste und immer wieder zitierte Aussage zu dieser Besorgnis findet sich im Su wen Kapitel 2, wo es heißt:
Die Weisen griffen nicht erst dann ordnend/therapierend ein, wenn eine Krankheit bereits manifest war; sie griffen ordnend/therapie- rend ein, wo eine Krankheit noch nicht manifest war. Sie griffen nicht da ordnend/therapierend ein, wo bereits Unordnung herrsch- te; sie griffen dort ordnend/therapierend ein, wo noch keine Unordnung herrschte. ... Denn wenn Medikamente für die The- rapie erst dann eingesetzt werden, wenn eine Krankheit manifest geworden ist, wenn man erst dann ordnend eingreift, wenn die Un- ordnung bereits ausgebrochen ist dann ist das so, als grabe man einen Brunnen erst dann, wenn man durstig ist, und als gieße man die Waffen erst dann, wenn der Kampf tobt. Wäre das nicht auch zu spät?11
11 Paul U. Unschuld, 2013, 13.
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