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HUANG DI NEI JING LING SHU
gen und sie so erkennen. Wenn er gestorben ist, dann kann man ihn aufschneiden und [sein Inneres] ansehen
Ob die Langzeitspeicher fest oder brüchig sind, ob die Kurzzeitspei- cher groß oder klein sind, wie viel Getreide [er aufgenommen hat], die Länge der Gefäße, ob das Blut klar oder trübe ist, ob viel oder wenig Qi vorhanden sind, ob die Zwölf Leitbahnen viel Blut und wenige Qi transportieren oder wenig Blut und viele Qi oder gar ob alle viel Blut und viel Qi oder wenig Blut und wenige Qi beinhal- ten – das alles lässt sich in Zahlen fassen.
Lage, Fassungsvermögen, Umfang und andere Parameter werden im Ling shu, im Su wen und im Nan jing eindeutig beschrieben. Im Ling shu finden wir entsprechende Angaben insbesondere in den Kapiteln 32 und 49. Eine gewisse Schwierigkeit bietet der Terminus xin 心. Er kann sowohl das „Herz“ als auch den „Magen“ bezeichnen. Ansonsten gilt: „Lunge“ ist Lunge, und „Leber“ ist Leber. Der Unterschied liegt im Wesentlichen in der Zuschreibung der Funktionen und in den vermu- teten inneren Bezügen. Herz und Dünndarm in derselben Weise als ein Paar zu deuten wie Leber und Galle, das ist dem europäischen Denken fern. Diese Unterschiede rechtfertigen jedoch nicht die Vermeidung der wörtlichen Übersetzung. Ansonsten dürfte man auch die chinesischen Ohren nicht als Ohren und die chinesische Nase oder den chinesischen Mund nicht als Nase und Mund übersetzen, denn auch deren physiolo- gische Funktionen und strukturelle Anbindungen im Organismus sind europäischem Denken teilweise fremd.
Das gilt auch für das bereits angesprochene Konzept vom Blut. Die Subs- tanz von 血 xue ist dieselbe wie die von haima im antiken Griechenland oder von Blut in unserem Alltags- oder medizinischen Fachverständnis. Es ist die Substanz, die lebensnotwendig im Körper fließt, die im Körper gerinnen kann, die bei Nasenbluten, Menstruation oder Wunden aus dem Körper fließt und die es zu bewahren gilt. Blut ist Blut. Die Deu- tung freilich, wie Blut entsteht, welche Aufgabe es hat, wo es fließt und anderes mehr, war unterschiedlich und stimmt schon in deutschen Tex- ten aus dem 19. Jahrhundert mit heutigem Kenntnisstand nicht mehr überein. Trotzdem sprechen wir stets von „Blut“.
Das Konzept „Blut“ als eine sichtbar rote Körperflüssigkeit steht in den antiken Texten der chinesischen Medizin, wie in der griechischen Antike, den unsichtbaren aber dennoch ebenso lebensnotwendigen Dämpfen gegenüber. In der griechischen Antike bezeichnete man diese als aer oder pneuma und sprach von den „Arterien“, also den, wie die
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