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HUANG DI NEI JING LING SHU
wörtliche Übersetzung lautet, „Luftgefäßen“, da bei der Sektion einer Leiche die Arterien leer erscheinen. Das sahen die Autoren der antiken chinesischen Texte etwas anders. Nur das Blut ist an Gefäße gebunden; Blut, das etwa nach Stoß- und Schlagverletzungen, außerhalb der Ge- fäße stagniert, ist ein krankhaftes Zeichen. Die Dämpfe, das sind die bereits oben angesprochenen Qi, dagegen können überall im Körper ih- ren Weg finden. Sie gehen über die Speisen und Getränke sowie über die Atemluft via Mund und Nase in den Körper hinein. Sie können den Organismus über Mund und Nase, durch die Haut und auch zum Bei- spiel als Darmwinde wieder verlassen.
Die unterschiedliche Mobilität von Blut und Qi schlug sich in der Yin- und Yang-Zuordnung nieder. Blut ist Yin und die Qi sind Yang. Die Yin-Einordnung des Blutes ist durch die materielle Schwere begrün- det; Blut fließt nach unten. Die Yang-Zuordnung der Qi ist durch die Leichtigkeit und buchstäbliche Unfassbarkeit der Qi begründet; sie zer- streuen sich in alle Richtungen und sind daher Yang.
Über diese Zuordnungen haben die antiken Autoren noch eine zwei- te Kategorisierung gelegt. Sie waren der Ansicht, dass der Körper ein Abwehrsystem besitzt, mit einer Yin- und einer Yang-Komponen- te. Sie benannten diese beiden Komponenten – entsprechend unserer Vorstellung einer „Abwehr“ – mit militärischen Ausdrücken, die Yin- Komponente als 營 ying, wörtlich: „militärisches Schutzlager“ und die Yang-Komponente als 衛 wei, wörtlich: „Wächter“, also als Wachen, die frei patrouillieren können. Ying und wei, Schutzlager und Wäch- ter, sind Qi als Oberbegriff; das Blut wurde mit den Schutzlager-Qi gleichgesetzt, also als in einem Lager eingezäunte Wachen, da es in den Gefäßen gleichsam eingezäunt ist. Die sind eher ortsgebunden und daher von Yin-Charakter. Die Qi im engeren Sinne wurden mit den Wächter-Qi gleichgesetzt. Ihre Mobilität ist ein Yang-Charakteristikum, da sie die Gefäße jederzeit verlassen und sowohl in den Innen- als auch in den Außenbereichen des Körpers patrouillieren können, im- mer auf der Wacht, um Eindringlinge aufzuspüren und zu bekämpfen. Der Terminus 搏 bo, „auf etwas einschlagen“, ist im Ling shu der meist gebrauchte Ausdruck für das Aufeinandertreffen einander feindlich ge- sinnter Qi.
6. Die Ursachen des Krankseins
Die Ursachen für ein Kranksein der Menschen waren im Ling shu kei- neswegs eindimensional oder in irgendeiner Weise simpel dargestellt. Auch angesichts einer höchst modern anmutenden breiten ätiologi-
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