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HUANG DI NEI JING LING SHU
zeitspeicher“. Ihnen steht eine zweite Gruppe entgegen: Dünndarm, Dickdarm, Magen, Gallenblase, Harnblase und ein nie exakt definierter, so genannter Dreifacher Wärmer. Diese Organe erhalten ihre Einlage- rungen heute und geben sie morgen wieder ab. Das sind die fu 府, die „Kurzzeitspeicher“.
Die Bedeutung von fu wandelte sich mit dem Ende der Zeit der Kämpfen- den Reiche. Aus der Bedeutung „Getreidespeicher“ ging die Bedeutung „Amtssitz“ und schließlich „Palast“ hervor. So wird die Bezeichnung für den Wind-Palast, feng fu 風府, verständlich; eine Öffnung durch die der Wind bevorzugt in den Körper eindringt. Allerdings gab es da ein in Ling shu Kapitel 79 in einem der Dialoge zwischen Huang Di und seinem Berater Qi Bo dokumentiertes kleines Missverständnis. Ersterer war der Meinung, es gebe nur einen „Wind-Palast“ an einem festge- legten Ort, nämlich im Nacken nahe dem oberen Ende der Wirbelsäule. Letzterer musste Huang Di dahingehend korrigieren, dass im Falle der Malaria der Wind-Palast täglich auf der Höhe eines anderen Rückenwir- bels dem Übel Einlass bietet. Ansonsten wird der Terminus fu im Ling shu in der Bezeichnung der Organe ausschließlich als „Kurzzeitspei- cher“ im Kontrast zu den „Langzeitspeichern“ verwendet. Die Speicher waren im geeinten chinesischen Kaiserreich und schon zuvor, als die letzten getrennten Königreiche zu riesigen politischen Einheiten ange- wachsen waren, für die Versorgung unverzichtbar – dieselbe Bedeutung hatten sie nun für die Physiologie und Pathologie des menschlichen Or- ganismus.
Es hat in der Vergangenheit Bedenken gegeben, die chinesischen Termini für Lunge, Herz, Leber usw. wörtlich ebenso zu übersetzen. Schließlich, so die Argumentation, verband die antike und historische chinesische Medizin mit diesen Organen ganz andere Funktionen und auch struk- turelle Zuordnungen als etwa die europäische Medizin. Die Augen, zum Beispiel, als Fortsetzung der Leber zu deuten, das ist der europäischen Sichtweise sehr fremd. Dennoch ist diese Argumentation wenig stich- haltig. Die morphologische Identifizierung der Organe in den antiken chinesischen Texten, wie dem Ling shu, dem Su wen und dem Nan jing, ist ohne Zweifel identisch mit der Morphologie der Organe, wie sie auch in Europa seit der Antike bekannt war. Ein Ausschnitt aus Kapitel 12 des Ling shu mag uns dies beispielhaft vor Augen führen.
Nehmen wir eine männliche Person von 8 Fuß Größe. Der hat eine Haut und er hat Fleisch. Man kann seine Maße von außen messen, [man kann mit den Fingern] Druck ausüben, [den Strukturen] fol-
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