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HUANG DI NEI JING LING SHU
insgesamt sondern auch des individuellen Körpers. Die politisch-medi- zinische Ganzheitlichkeit der chinesischen Medizin war die wichtigste Garantie dafür, dass diese Heilkunde als integrierter Bestandteil der po- litischen Kultur der Zeit des Chinesischen Kaiserreichs eine so lange Kontinuität erreichte. Die Problematik der Übersetzung von solchen zentralen Termini wie zhi und luan in eine westliche Sprache weist gleichzeitig darauf hin, dass eine klassische oder gar authentische Übertragung der chinesischen Medizin in die europäische Kultur un- möglich ist. Indem wir die Termini zhi und luan in politischem Umfeld als „ordnen/regieren“ und „gesellschaftliche Unordnung“, aber in medizinischem Kontext als „therapieren/heilen“ und „Krankheit“ über- setzen, lösen wir das wichtigste konzeptuelle Merkmal der chinesischen Medizin auf und verweisen sie in den rein heilkundlichen, scheinbar gesellschaftlich irrelevanten Bereich.
5. Die Morphologie – Substrat und Einordnung
Terminologisch und begrifflich sind in Ling shu und Su wen der in- dividuelle Körper und der politische Körper, der Staat, weitgehend identisch. Die neue Medizin bot nicht nur einen neuen Zugang zum Umgang mit dem gesunden und kranken individuellen Körper; sie bettete diesen Umgang zugleich in eine ganz bestimmte gesellschaft- liche Ordnung ein. Die für den Staat unverzichtbare Bürokratie fand sich auch im Körper wieder. Ein Überbegriff für die Akteure im Kör- per, die wir Organe nennen, lautete folglich in Su wen, Kapitel 8: guan 官, also „Amtsträger“, oder auch „Beamte“. So wie in der deut- schen Sprache der anatomische Terminus „Organ“ auf den Staat und dessen „Organe“ übertragen wurde, wurde umgekehrt in der Chinesi- schen Medizin der bürokratische Terminus guan auf die „Amtsträger“ im Organismus übertragen. Im Ling shu wird der Terminus guan an- ders verwendet. Dort sind die Augen die Amtsträger der Leber, die Nase der Amtsträger der Lunge, der Mund der Amtsträger der Milz, die Zunge der Amtsträger des Herzens und die Ohren die Amtsträ- ger der Nieren.
Alle Phänomene sind in der säkularen Weltsicht entweder Yin oder Yang, und das gilt auch für die Organe. Im Ling shu, wie auch im Su wen, findet die Yin-Yang-Theorie auf die Unterteilung des gesamten Körpers und seiner Funktionen und somit auch der eigentlichen Orga- ne Anwendung. Da gibt es solche, die tief im Inneren liegen und die der langfristigen Speicherung von Ressourcen verpflichtet sind: Lunge, Herz, Milz, Leber, Nieren; sie tragen die Bezeichnung zang 藏, „Lang-
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