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HUANG DI NEI JING LING SHU
versprach; kein Wunder auch, dass die Utopie einer gesellschaftlichen Harmonie bis heute ein überaus hochrangiges politisches Schlagwort in China geblieben ist. Um dieses Ziel gesellschaftspolitisch zu erreichen, ist der Ausgleich, tiao 調, zwischen verfeindeten Gruppen und Regio- nen erforderlich; er führt schließlich zur Ordnung, zhi 治.
Das Ling shu wie auch das Su wen kennen keinen eigenen Terminus für „Gesundheit“. Es gibt eine Vorstellung vom „normalen“ Menschen, der ganz bestimmte Körper- und Skelettmaße hat, die in Kapitel 14 darge- legt werden und dessen Physiologie, so vor allem in der Atmung, ganz charakteristischen Zeitabläufen folgt, so zum Beispiel ausgeführt in Ka- pitel 15. Alle Menschen sind nicht gleich, daher nennen Kapitel 64 und 65 die Merkmale von insgesamt 25 Typen. Der ideale Zustand des „gesunden“ Menschen ist: ping 平, also: Frieden, oder an 安, also: Si- cherheit, oder he 和, also: Harmonie. Dieser Zustand wird erreicht durch „Ausgleich“, tiao 調, zwischen den feindlichen Kräften im Körper, das sind zuallererst die Yin- und Yang-Qi, die in dauerndem Bemühen um gegenseitige Vernichtung mit darauffolgender Revanche begriffen sind. Folglich betont der unbekannte Autor einer Aussage in Ling shu, Ka- pitel 33:
Zu wissen, wie ein Ausgleich herbeigeführt wird, das ist nützlich. Nicht zu wissen, wie ein Ausgleich herbeigeführt wird, das ist schädlich.
Die Therapie ist daher ein Ordnen, ein Regieren, zhi 治. Als hätte Huang Di hier ein wenig Nachhilfe nötig, möchte sein Dialogpartner Qi Bo die schon in Kapitel 29 angesprochenen Parallelen zwischen staatli- cher Ordnung und körperlicher Gesundheit in Kapitel 45 noch einmal ausführen. Und als Huang Di ihn sogleich mit den Worten unterbricht: „Ich möchte über den WEG des Nadelns unterrichtet werden, nicht über die Angelegenheiten des Staates!“, entgegnet ihm Qi Bo, dass das eine nicht ohne das andere geht: der WEG, das Dao, des Nadelns ist iden- tisch mit dem der Staatsführung.
Der Ordnung zhi steht die Unordnung entgegen. Mehrere Termini wur- den in der Medizin aus der Umgangssprache für den Begriff Krankheit, Kranksein, Leiden übernommen: bing 病, ji 疾, huan 患 und ku 苦. Doch als der wahre Gegensatz zu zhi, „Ordnung“, gilt luan 亂, die „Un- ordnung“. Die Angst vor luan, vor der gesellschaftlichen Unordnung, wirkte aus dem Trauma der Zeit der Kämpfenden Reiche nach und wur- de so auch zum Oberbegriff von Kranksein, nicht nur der Gesellschaft
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