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HUANG DI NEI JING LING SHU
dem sie eigentlich nichts zu suchen haben, in diesem Moment werden sie „übel“ und dürfen vertrieben werden. Aber es sind nicht nur mög- liche Eindringlinge von außerhalb des Körpers, die sich eine „Leere“ im Körper zunutze machen. Die Organe selbst spielten im Organismus dieselbe Rolle, die die einzelnen Staaten in der Zeit der Kämpfenden Reiche jahrhundertelang ausübten. Jede Schwäche eines benachbarten Territoriums führte sofort zur Invasion. So nun auch im Organismus. Wird ein Organ übermäßig seiner Ressourcen, also seiner Qi, entleert, dann fallen dort Qi aus einem benachbarten Organ ein und das hat je nach dem Kräfteverhältnis der Organe untereinander mehr oder weni- ger schwerwiegende gesundheitliche Folgen.
Das Versprechen der neuen Medizin lautete also: wer sich den Geset- zen „angepasst“, shun 順, und am rechten Ort „rechtschaffen“, zheng 正, verhält, wer seine Emotionen zügelt und damit die Geister unter Kontrolle behält, sowie die inneren Strukturen vor Übergriffen von au- ßen schützt, der hat die existentielle Selbstbestimmung im Rahmen der biologischen, also naturgegebenen, Möglichkeiten gewonnen. Das ge- genteilige Verhalten, ein ni 逆, also ein „Zuwiderhandeln“ gegen die Gesetze, und ein Übergriff auf fremde Positionen, xie 邪, wird eben- so geahndet wie eine sträfliche Verausgabung der eigenen Ressourcen mit der Folge, dass fremde Kräfte sich des geschwächten Terrains be- mächtigen, cheng 乘. Die Begrifflichkeit ist immer dieselbe, ob es den Umgang mit dem eigenen Körper in der Natur oder das Verhalten in der Gesellschaft betrifft. Der Mensch weiß, was ihm bevorsteht, wenn er sich so oder so verhält. Die neue chinesische Medizin war eine zu- tiefst ganzheitliche, das heißt allumfassende Heilkunde. Sie fügte das individuell Körperliche auf das engste mit dem gesellschaftlich Politi- schen zusammen.
4. Die politisch-medizinische Ganzheitlichkeit
In dieser Ganzheitlichkeit zeigt sich ein weiteres Erbe der erst mit der Reichseinigung von 221 v. Chr. abgeschlossenen, mehrere Jahrhun- derte andauernden und bis heute traumatisch nachwirkenden Zeit der Kämpfenden Reiche. Die Gesellschaft als Staat, darin waren sich alle Sozialphilosophen der Antike einig, sehnt sich nach ping 平, das ist „Frieden“, nach an 安, das ist „Sicherheit“, nach he 和, das ist „Har- monie“. Das sind Bedingungen, die in der Zeit der Kämpfenden Reiche in weiter Ferne lagen und auch seitdem bestenfalls für kurze Perioden in China Wirklichkeit wurden. Kein Wunder also, dass die neue Me- dizin zumindest für den eigenen Körper diese Sehnsucht zu erreichen
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