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HUANG DI NEI JING LING SHU
wurde, verweist auf feinstmaterielle Dämpfe, die neben dem Blut für den menschlichen Körper lebensnotwendig sind. Die Qi eines Organs, also dessen Ressourcen, werden zuallererst durch die Emotionen aufge- braucht. Eine undisziplinierte Emotionalität erlaubt den übermäßigen Abfluss der Qi aus dem für Trauer, Freude, Angst, etc. jeweils zuständi- gen Organ und führt dann zu zwei möglichen, aber in gleichem Maße unangenehmen Konsequenzen. Der freigesetzte Geist kann dem be- treffenden Menschen gesundheitliche Probleme bereiten. In von der antiken chinesischen Kultur geprägten Gesellschaften Ostasiens ist bis in die Gegenwart eine emotionale Zurückhaltung der Menschen er- kennbar. Das mag noch eine Nachwirkung der Vorstellung von dem emotionalen Überschwang als einer wichtigen Ursache des Krankseins sein.
3.4 正 zheng, 邪 xie
Mindestens ebenso wichtig für die Einschätzung einer inneren „Leere“ als gesundheitlich riskanten Zustand war eine Erfahrung aus der Zeit der Kämpfenden Reiche, die hier in das pathologische Konzept Ein- gang fand. Wo ein Zustand der Leere entsteht, da wird dieser sogleich von den benachbarten Kräften ausgenutzt, die über ihr eigenes Terri- torium hinaus in das benachbarte Gebiet eingehen. Alles, was dort ist, wo es hingehört, ist „rechtschaffen“, zheng 正. Alles, was seinen ange- stammten Platz verlässt, eine „Leere“, xu 虛, an anderem Ort ausnutzt und sich dorthin begibt, wo es nicht hingehört, das ist übel, xie 邪. Mit dieser Gegenüberstellung von „rechtschaffen“ und „übel“ betonte die neue Sicht auf Gesundheit und Krankheit zwei Themenkreise. Zum ei- nen bietet die Medizin eine ständige Ermahnung, sich in jeder Hinsicht „rechtschaffen“ zu verhalten, also da seine Pflichten zu tun, wo man hingestellt wurde, denn alles andere ist von „Übel“. Die hier verwen- deten Wertworte sind für das Verhalten sowohl in der Gesellschaft als auch in der Natur relevant.
Zum anderen wurde mit dem Begriff des „Üblen“ eine Alternative zu der Besessenheit durch die Dämonen geschaffen. Nicht mehr die Dämonen sind das „Übel“, das den Menschen befällt. Jetzt sind es entweder die natürlichen Phänomene wie Wind, Nässe, Hitze und Kälte, die so lange als „rechtschaffen“ gelten, wie sie außerhalb des menschlichen Körpers ihre natürlichen Funktionen erfüllen. In dem Moment jedoch, in dem der Mensch sich eine Blöße gibt, das heißt, eine „Leere“ in seinem Kör- per eröffnet, in dem Moment, in dem die rechtschaffenen natürlichen Phänomene diese „Leere“ ausnutzen und in den Körper eindringen, in
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