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HUANG DI NEI JING LING SHU
numinosen Instanz „Himmel“ zugeteilten und wieder entzogenes Man- dat. Ming ist nun das Leben schlechthin, über dessen Länge und Güte der Mensch selbst durch sein Verhalten entscheidet – auf die Naturge- setze ist Verlass; da gibt es keine Willkür mehr.
3.3 神 shen
Der wichtigste der neu zu bestimmenden Begriffe war freilich 神 shen, gemeinhin übersetzt als „Geist“ oder auch „Gott“. Das war in der bishe- rigen Weltanschauung, neben dem „Himmel“ als abstrakter numinoser Macht, die Instanz, die über das Leben der Menschen entschied. Die Dämonen, die Ahnen, die sonstigen Geister, die Götter, alle diese nu- minosen Kräfte fanden in dem Begriff shen zusammen. Er war, im Verbund mit dem „Himmel“, der Ausdruck existentieller Fremdbestim- mung des Menschen. Die Opfer und Gebete der Lebenden richteten sich an die shen, immer in der Hoffnung, dass diese Wesen in ähnlicher Wei- se durch Versorgung mit guten Dingen bestochen, durch Ansprache mit guten Worten emotional vielleicht berührt oder durch Drohung mit noch mächtigeren Wesen in Angst versetzt werden könnten. Diese Vor- stellung hat sich in weiten Teilen der chinesischen Bevölkerung bis in die Gegenwart erhalten; damals war sie für wahrscheinlich jedermann eine feste Überzeugung. Gegen diese Überzeugung trat die neue Welt- anschauung an und mit ihr die neue Medizin.
Die Grundidee dieser Medizin besteht darin, das Abhängigkeitsverhält- nis umzukehren. Nicht die Geister haben die Macht über den Menschen. Der Mensch kontrolliert die Geister. Die Intellektuellen, die die neue Weltanschauung schufen, begingen nicht den Fehler zu behaupten: es gibt keine Geister. Sie boten eine neue Deutung des vertrauten Kon- zepts. Demnach hat jeder Mensch in sich Geister, die in seinen Organen verortet sind. Dort sind sie stabil „gefangen“, so lange genügend Res- sourcen vorhanden sind, die den jeweiligen Geist festhalten. Erst wenn die Ressourcen eines Organs übermäßig verbraucht sind und ein Zu- stand der Leere eintritt, dann kann der bis dahin gefangene Geist sich befreien und dem Menschen Unheil bringen. Mit anderen Worten, es liegt an jedem Einzelnen selbst, seine Ressourcen so zu bewahren, dass die Geister in den Organen festgehalten werden. Damit ist die Grundla- ge existentieller Selbstbestimmung geschaffen.
Für die erforderlichen Ressourcen stand ein wichtiges, ebenfalls neu- es Konzept, die Qi. Das Schriftzeichen, das aus den Bestandteilen „Reis“ und „Dampf“ erst in der späten Zhou-Zeit oder in der frühen Han-Zeit geformt wurde, also in der Zeit, in der auch die neue Medizin erdacht
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