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HUANG DI NEI JING LING SHU
über die Autoren der Texte, die in der europäischen Antike in dem Cor- pus Hippocraticum zusammengefasst wurden. Wir wissen nicht, mit welchen Widerständen die Autoren in China kämpfen mussten, um ihre Ideen zu verbreiten. Die Idee der Gesetzmäßigkeit der Naturvorgän- ge war neu und sicherlich verstörend für die Mehrheit der Menschen, die die Existenz von Göttern, Geistern, Dämonen und Ahnen für eine Selbstverständlichkeit erachteten.
Eine neue Ideologie bedarf der Sprache und bestimmter Termini, die die neuen Wertworte ausdrücken. Die Gründer der säkularen Weltanschau- ung in der chinesischen Antike gingen zu diesem Zweck so vor, wie es wohl immer am wirkungsvollsten war und ist. Sie schufen keine neuen Termini, die der anzusprechenden Öffentlichkeit fremd und unvertraut waren, sondern bedienten sich bekannter Termini und füllten diese mit neuen Inhalten.
Das Wort 法 fa ist dafür das beste Beispiel. Ursprünglich verwies es auf das „Vorbild“ und „Modell“ der Weisen in der Vorzeit, denen jeder möglichst folgen sollte zum eigenen Vorteil und dem der gesamten Ge- sellschaft. In der Zeit der Kämpfenden Reiche (5.–3. Jahrhundert v. Chr. Geb.) entstanden zunehmend größere Staatswesen, die eine Bürokratie erforderten, um regierbar zu bleiben. Damals nahm der Begriff fa auch die Bedeutung von Sozial-, bzw. Strafgesetzen an. Die fa erlangten den Status einer Gesetzeskraft und somit lag es nicht mehr im Belieben des Einzelnen, ihnen zu folgen oder nicht, sondern es wurde Pflicht. Wer sich ihnen widersetzte, der musste mit Bestrafung rechnen. Die Welt- anschauung der Legisten sah allein in dem streng zu überwachenden Gehorsam gegenüber den fa die Gewähr für ein gutes Verhalten der Menschen. Der Appell an das Gute im Menschen, den die Konfuzia- ner für wirksam erachteten, erschien den Legisten als unzureichend. In der neuen säkularen Weltanschauung nun wurde die Bedeutung der fa noch einmal erweitert. Nun verwies fa auch auf die Naturgesetze. Auch die Natur, so lautete die neue Einsicht, hat ihre Gesetze, denen man sich besser unterordnet. Das mag nicht immer angenehm sein, aber ist doch mit der Gewissheit verbunden, dass die Gesetzestreue mit Wohlergehen belohnt wird. Der Glaube an die Götter, Geister, Dämonen und Ahnen beruht auf einer Ungewissheit, die durch die – wie es zumindest für die Opfer oft den Anschein hat – Willkür der numinosen Mächte dauernd bestätigt wird. Der Mensch, so suggerierte die neue säkulare Weltan- schauung, hat es in seiner Hand, ob er sich ein langes und gesundes Leben schenkt oder Krankheit und frühen Tod. Die Gesetze, denen die Natur folgt und denen somit auch der Mensch unterworfen ist, sind die
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