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HUANG DI NEI JING LING SHU
Die Entwicklung dieser Medizin in China wirft aus historiographi- scher Sicht zahlreiche Fragen auf. Die Texte im Su wen und Ling shu vermitteln den Eindruck, dass der bis auf die eine Ausnahme im Ge- spräch mit Lei Gong unwissende Huang Di von Männern belehrt wird, die zwar in den uns heute verfügbaren älteren Quellen ungenannt sind, aber aus einer schon lange existenten Tradition schöpften. Sie verweisen auf Literatur, die Huang Di eigentlich, wie es an einer Stelle im Su wen heißt, doch kennen müsste; sie verweisen auf Statistiken, die einen gewissen Zeitraum der Erfahrung mit zahlreichen Patien- ten widerspiegeln. Sie nennen, mehrfach im Ling shu dokumentiert, auch die Unterschiede zwischen den „ungehobelten“, also inkompe- tenten Praktikern einerseits und den fähigen Anwendern der Medizin andererseits. So etwas kann man kaum über eine ganz neue Vorge- hensweise sagen.
Liest man die Dialoge, dann ist diese Medizin eine bereits lange und fest etablierte Heilweise – und nur der ehrbare Gelbe Thearch hat bis- lang davon kaum etwas mitbekommen und ist unbeholfen in seinen Versuchen, diese Medizin anzuwenden. Und das, obwohl er doch von außerordentlicher Intelligenz und breitem Wissen war, wie die in spä- teren Jahrhunderten, wahrscheinlich erst zur Tang-Zeit, an den Beginn des Su wen gerückte Beschreibung des Gottherrschers rühmt. Wie dieser Widerspruch aufzulösen ist, dem hat sich bislang noch keine Forschung gewidmet. Chinesische Quellen, die den Anspruch der Dialoge auf eine bereits längere Anwendungszeit der Medizin legitimieren könnten, sind jedenfalls nicht bekannt.
Der Einzelne, der sich unter die Naturgesetze stellt, erwirbt einen An- spruch der Berechenbarkeit der Güte und der Länge seines Lebens. Diese Überzeugung warf allerdings die Frage auf, wem der Mensch sein Le- ben verdankt. Das ist in Kapitel 56 des Su wen und auch anderenorts sehr deutlich ausgedrückt:
Der Mensch erhält sein Leben aus den Qi von Himmel und Erde. Er kommt zur Reife durch die Gesetze der vier Jahreszeiten.
Da bleibt kein Raum für metaphysische Wesen, denen der Mensch seine Existenz verdankt. Die chinesische Variante einer Aufklärung, die hier in der Antike sichtbar wird, führte zu einer völlig säkularisierten Welt- anschauung und somit auch Medizin, der sich jedoch die wenigsten Menschen anschlossen. In Kapitel 5 des Ling shu wird die Säkularisati- on des „Himmels“ eher beiläufig wiederholt. Nach einer ausführlichen
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