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HUANG DI NEI JING LING SHU
Ein beredtes Beispiel findet sich in Kapitel 80 des Ling shu. Da schil- dert Huang Di, wie ihm jedes Mal schwindlig wird, wenn er ein hohes Gebäude erklimmt und zwar wird ihm derart schwindlig, dass er nur noch auf allen Vieren vorwärts kriechen kann. Mag man sich einen Gottherrscher vorstellen, der auf allen Vieren kriechen muss, um sei- nen Schwindel zu beherrschen? Kann man sich vorstellen, dass ein Gottherrscher einem Lehrer eine Frage stellt und der antwortet, dass das nun wirklich Dinge sind, die man nicht jedem weitererzählen kann? Erst als der Gottherrscher an das Gewissen seines Gegenübers appel- liert, zeigt der sich bereit, die Frage zu beantworten (s. Kap. 64). Und dann stellt Huang Di in Kapitel 47 eine Frage, auf die Qi Bo, der Kun- dige, mit einem langen, ausschweifenden Diskurs antwortet, bis Huang Di schließlich die Geduld verliert und er dem Qi Bo sagt, danach habe er gar nicht gefragt. Auf eine besonders naive Frage antwortet der Kun- dige Shao shi ebenso überrascht wie vorwurfsvoll in Kapitel 79: „Wie, das wissen Sie als Thearch nicht?“ Freilich, auch Huang Di scheut nicht das offene Wort, wenn ihm in Kapitel 59 als Reaktion auf eine Darle- gung des Qi Bo die Bemerkung in den Mund gelegt wird: „Was sie jetzt sagen, das alles wissen alle Kranken auch selbst“.9
Vielleicht sind schon diese Merkwürdigkeiten Hinweise genug auf die Autoritätskritische Einstellung der Autoren. Das Ling shu, wie auch das Su wen, ist nicht nur der Naturgesetzlichkeit gewidmet, es ist der Gesetzlichkeit insgesamt gewidmet. Es ist ein Zeugnis der versuchten Befreiung von der Willkür, und zwar nicht nur der Göt- ter, Geister, Dämonen und Ahnen, deren Wirkmotive den Menschen letztlich verschlossen bleiben müssen, sondern von jeglicher Will- kür und somit auch der Willkür der weltlichen Herrscher. Gesetze, fa, sind der Maßstab, nach dem die Menschen sich richten müssen und sonst nichts.
3. Die neue Begrifflichkeit
3.1 法 fa
Wir wissen nichts über die Autoren der Texte, die in das Su wen und in das Ling shu Eingang fanden. Ähnlich mangelhaft ist unser Wissen
9 Einen sehr ausführlichen Versuch, die widersprüchlichen Bezüge zwischen den Nei jing-Texten Su wen und Ling shu und der Dialogstruktur in einen ideengeschicht- lichen Kontext zu stellen, bietet Ma Boying 马伯英: Zhong guo yi xue wen hua shi 中国医学文化史, A History of Medicine in Chinese Culture. Shanghai: ren min chu ban she 上海人民出版社, 1994, 242 ff.
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