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HUANG DI NEI JING LING SHU
der Vorstellung einer Naturgesetzlichkeit, die unabhängig von Göttern, Geistern, Dämonen und Ahnen, unabhängig auch von Zeit und Raum gültig sei. Diese Intellektuellen bildeten den Kern einer aufgeklärten, sä- kularen Weltsicht, die in ihrer Konsequenz viel früher als in Europa den Blick auf die Natur und die Einbettung des Menschen in die Gesetze der Natur als Grundlage für ein Verständnis des Werdens, des Wesens und der Vergänglichkeit des Lebens öffnete.
Zu jener Zeit war China bereits eine weit entwickelte Zivilisation. Ein komplexes staatliches Verwaltungssystem mit einer Bürokratie, die über weite Gebiete Kontinuität und wirtschaftliche ebenso wie gesellschaft- liche Standards sicherte, ging einher mit einer Schriftkultur, die eine Vielzahl von Themen behandelte, so wie sie in einem solchen Staatswe- sen Tag für Tag aktuell sind. Bibliotheken und Kataloge vermerkten die Werke, die als Chroniken oder philosophische Texte, als Wörterbücher oder militärische Ratgeber verfasst wurden. Viele der Autoren sind noch immer namentlich bekannt. Da mag man sich wundern, warum aus- gerechnet die Autoren der überaus umfangreichen Werke, die in China eine Medizin im engeren Sinne begründeten, nicht in diese Listen Ein- gang fanden. Man mag sich wundern, warum ihre Texte nur in einer äußerst fragilen Überlieferung die Jahrhunderte überdauerten, wenn sie nicht, wie das Ling shu und das Tai su 太素, in China selbst weitestge- hend oder vollkommen verloren gingen. Man mag diese Verluste mit den vielen Kriegen erklären, die auch zu der Zerstörung vieler Manuskript- Texte führten, aber überzeugend ist eine solche Erklärung nicht. Wenn das Su wen, das Ling shu und das Tai su von einer größeren Anzahl der Mitglieder der Bildungselite hoch geschätzt worden wären, dann wären sie in ausreichender Zahl kopiert worden und der Reaktion auf Kranksein in diesen Bevölkerungsschichten zugrunde gelegt worden. Mit Sicherheit hätten dann auch mehr als nur Bruchstücke der Texte die Jahrhunderte überlebt. Das aber war allem Anschein nach nicht der Fall.
Allein die Tatsache, dass Kopien des Tai su nach Japan gelangten und dort in Tempelbibliotheken fragmentarisch die Jahrhunderte überdauer- ten, gibt uns heute die Möglichkeit, dieses älteste Zeugnis jener antiken Texte, das aus einer kommentierten Zusammenfassung der Inhalte des Su wen und des Ling shu entstand, in Augenschein zu nehmen. Der Au- tor des Tai su ist Yang Shangshan 楊上善. Sein Name ist der einzige unter den Verfassern des in dem Textkorpus Huang Di nei jing 黃帝内 經, „die Inneren Klassiker des Huang Di“, zusammengefassten Werke, der in den Annalen erwähnt wird. Yang Shangshan lebte allerdings erst
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