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HUANG DI NEI JING LING SHU
Einführung
1. Eine neue Weltanschauung – eine neue Heilkunde
Das Ling shu 靈樞, auch Ling shu jing 靈樞經 genannt, ist der Klassiker der Akupunktur. Die heute bekannte Fassung geht vermutlich in großen Teilen auf einzelne, kürzere Texte zurück, die beginnend mit dem zwei- ten und ersten Jahrhundert v. Chr. während der beiden Han-Dynastien in der Antike Chinas verfasst wurden. Die Autoren dieser Texte sind namentlich ebenso unbekannt wie derjenige, der irgendwann in dieser Zeit unterschiedliche Einzeltexte in ein großes Werk zusammenfasste. Viele Fragen über den Ursprung des Ling shu sind bis heute unge- klärt.1 In einer Bibliographie von Liu Xin 劉歆 (starb 23 n. Chr. Geb.) aus den ersten Jahren des 1. Jahrhunderts wurde ein Titel Zhen jing 針經, „Nadel-Klassiker“, in 9 Kapiteln genannt. Angeblich orientierte sich Liu Xin an einem älteren Katalog mit dem Titel Bie lu 別錄, den sein Vater Liu Xiang 劉向 (starb 6 v. Chr. Geb.) verfasst hatte. In wel- chem Ausmaß die Inhalte des heute verfügbaren Ling shu mit diesem Zhen jing identisch sind, das ist nicht mehr mit Sicherheit zu bestim- men. Ebenso bleibt die Frage offen, wer dem Werk schließlich den Titel Ling shu, das heißt: „Dreh- und Angelpunkt der Magie“, gab, der so gar nicht in Beziehung zu den Inhalten dieses so bewusst von sä- kularer Vernunft geprägten Textes steht. Möglicherweise war dies der Arzt und Su wen 素問-Kommentator 王冰 Wang Bing, der den Titel Ling shu im 8. Jahrhundert erstmals verwendete.2 Fest steht lediglich, dass die von Huangfu Mi 皇甫謐 (215-282) in seinem Medizinklassi- ker Jia yi jing 甲乙經 zitierten Inhalte aus dem Zhen jing vollständig auch im heutigen Ling shu enthalten sind. Die Bewertung, die Hu-
1 Für eine detaillierte Erörterung der Frühgeschichte des Ling shu und der übrigen klassischen Texte der chinesischen Medizin siehe Paul U. Unschuld: Huang Di Nei Jing Su Wen. Nature, Knowledge, Imagery in an Ancient Chinese Medical Text. With an appendix: The Doctrine of the Five Periods and Six Qi in Su wen 66 through 71 and 74. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2003, 3ff.
2 Siehe Ma Jixing 马继兴: Zhong yi wen xian xue 中医文献学. Shanghai: kexue jishu chubanshe 上海科学技术出版社, 1990, 80 f. mit Hinweisen auf verschiedene ältere Texte des Titels Ling shu, die zur Zeit der Nördlichen Song-Dynastie auszugsweise zitiert wurden, aber inhaltlich nicht mit dem hier übersetzten Werk übereinstimmen. Klar erkennbar ist das daoistische Umfeld, in dem diese Texte vielfach angesiedelt sind.
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